BVerfG stoppt kurzfristig angeordneten mehrtägigen Kindesumgang

Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung eines mehrtägigen Kindesumgangs ist eine Folgenabwägung geboten. Insbesondere mit Blick auf die erhebliche Belastung der Kinder durch die überraschende und kurzfristige Anordnung ist die Verletzung des Elternrechts des nicht aufenthaltsbestimmungsberechtigten Elternteils zu vernachlässigen.

BVerfG, Beschl. v. 18.04.2013 – 1 BvR 1119/13

Die Beteiligten streiten um das Aufenthaltsbestimmungs- und das Umgangsrecht in Bezug auf ihre beiden Kinder. Im Januar 2013 vereinbarten sie gerichtlich, dass die Kinder bis zu einer anderweitigen Entscheidung ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der Mutter haben sollten.

Diese räumte dem Vater in zweiwöchentlichen Abständen jeweils an den Wochenenden ein Umgangsrecht ein, das nach seinem Umzug in eine größere Wohnung erweitert werden sollte.

 

Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht

Nachdem wegen berufsbedingter Abwesenheit der Mutter von 19.–27.04.2013 im anhängigen Sorgerechtsverfahren ein Anhörungstermin hatte verlegt werden müssen, befürwortete das AG nach dem Umzug des Vaters in eine größere Wohnung, dass die Kinder während der Abwesenheit der Mutter beim Vater bleiben sollten.

Dagegen wandte die Mutter ein, der Vater habe die Kinder noch nie so lange alleine betreut und versorgt, und unterstellte ihm eine Überforderung wie früher.

Umgangsrecht im Wege der einstweiligen Anordnung

Im April 2013 beantragte der Vater im Wege der einstweiligen Anordnung die Einräumung des unbegleiteten Umgangs während der Abwesenheit der Mutter. Mit Beschluss vom 16.04.2013 ordnete das AG an, dass die Kinder in dieser Zeit beim Vater wohnen sollten.

Gleichzeitig wies es die Mutter an, die Kinder bereitzuhalten und dem Vater alles Notwendige (Kleidung, Hygieneartikel etc.) auszuhändigen. Wegen besonderer Eilbedürftigkeit sei das Umgangsrecht im Wege der einstweiligen Anordnung ohne mündliche Verhandlung und Anhörung der Beteiligten zu regeln.

Dagegen beantragte die Mutter beim Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, da der angeordnete Umgang sie in ihren Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletze.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Der Antrag der Mutter auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

1. Rechtsgrundlage der einstweiligen Anordnung

Im Streitfall kann das Bundesverfassungsgericht gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, dass sich das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.04.1993 – 2 BvQ 14/93, DRsp-Nr. 2005/15352 und Beschl. v. 23.01.2001 – 2 BvQ 42/00, DRsp-Nr. 2001/4646).

2. Ausgang der Verfassungsbeschwerde nicht absehbar

Abzuwägen ist zwischen den Folgen, die entstehen, wenn die Anordnung nicht ergeht, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hat, und den Folgen, die entstehen, wenn die Anordnung ergeht, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg später aber versagt bleibt. Die einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren löst meist weitreichende Folgen aus. Aus diesem Grund ist bei der Prüfung ein strenger Maßstab anzulegen (BVerfG, Beschl. v. 24.08.1992 – 2 BvE 1/92, DRsp-Nr. 2005/15848). Der Ausgang der Verfassungsbeschwerde ist hier nicht abzusehen. Davon, dass sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweisen würde, kann nicht ausgegangen werden.

3. Abwägung der Folgen bei Nichterlass der einstweiligen Anordnung

Die gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, fände der Umgang im angeordneten Umfang statt. Wäre die Verfassungsbeschwerde dann aber begründet, wäre die Mutter durch den stattgefundenen Umgang in ihrem Elternrecht verletzt. Darüber hinaus wäre der angeordnete Umgang eine beträchtliche Belastung für die Kinder, denn die überraschende und kurzfristige Anordnung ließe kaum Vorbereitungszeit, um sie auf diese Situation einzustimmen. Außerdem müssten sie gegen den – ihnen bekannten – Willen der Mutter zum Vater, obwohl diesem nicht einmal das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf die Kinder zusteht.

4. Abwägung der Folgen bei Erlass der einstweiligen Anordnung

Erginge die einstweilige Anordnung, fände der Umgang mit dem Vater nicht statt, und die Kinder würden in ihrem bekannten sozialen Umfeld verbleiben. Wäre die Verfassungsbeschwerde dann erfolglos, wäre der Vater in seinem Elternrecht verletzt. Nunmehr sind die betroffenen Grundrechte gegeneinander abzuwägen. Das Ausmaß der Verletzung des Elternrechts des Vaters stünde hinter dem der Verletzung des Elternrechts der Mutter zurück.

5. Abwägung der betroffenen Grundrechte

Denn der vom AG angeordnete einmalige Umgang des Vaters mit den Kindern kann auch zu einem späteren Zeitpunkt noch stattfinden. Zum Wohle der Kinder ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Umgang ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt stattfindet. Außerdem wären die Kinder während der Abwesenheit der Mutter nicht unversorgt. Die Abwägung ergibt, dass die Nachteile für den Vater im Fall des Erlasses der einstweiligen Anordnung weniger schwer wiegen als die Nachteile für die Mutter, falls ihr die einstweilige Anordnung versagt würde.

Folgerungen aus der Entscheidung

In einer solchen Situation sind verschiedene Aspekte sorgfältig zu prüfen. Zum einen muss festgestellt werden, welche Rechte in welchem Umfang verletzt werden. Bei mehreren Verletzungen muss überdies untersucht werden, wie diese Verletzungen gegeneinander abzuwägen sind.

Darüber hinaus darf bei diesen Abwägungen insbesondere das Kindeswohl nicht aus den Augen verloren werden. Konkret abzuwägen sind die möglicherweise entstehenden Nachteile, bezogen auf den jeweiligen Einzelfall.

 

Praxishinweis: Bereits im laufenden Verfahren, d.h. also mit Antragstellung, sollten dem Gericht alle möglicherweise entstehenden Rechtsverletzungen und insbesondere auch die dadurch drohenden Nachteile ausführlich erläutert werden. Auf diese Weise können dem Gericht Anhaltspunkte vermittelt werden, die es im Rahmen seiner späteren Abwägung berücksichtigen muss. Unter Umständen kann dadurch Einfluss auf die abschließende Beurteilung und insbesondere die Gewichtung der Rechtsverletzungen genommen werden.

 
Rechtsanwältin Nicole Seier, Gelsenkirchen