§ 1687 BGB und Co: Neue Praxistipps zum Sorgerecht

Kaum ein Rechtsbereich ist so stark emotional aufgeladen wie das Sorgerecht. Letzter Beweis: Das Gesetzgebungsverfahren rund um die Sorgerechtsreform. Für Sie als Anwalt ist es bei Sorgerechtsfällen entscheidend, Ihrem Mandanten die objektiven Fakten hinter den Emotionen zu entlocken.

Sorgerecht: Auch nach der Reform ein Minenfeld

Bundestag wie Bundesrat haben der Sorgerechtsreform zugestimmt und damit eine lange diskutierte Ungerechtigkeit aus dem Weg geräumt. Unverheiratete Väter können künftig leichter die gemeinsame Sorge beantragen – notfalls auch gegen den Willen der Mutter.

So positiv diese Entwicklung zu sehen ist: Konfliktpotenzial birgt die elterliche Sorge nach wie vor. Zum Beispiel, wenn die Eltern sich bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge in die Haare kriegen.

Lesen Sie deshalb weiter unten in diesem Artikel unseren Praxisleitfaden „Entscheidungsbefugnis bei gemeinsamem Sorgerecht“, der Ihnen in solchen Fallkonstellationen mit wertvollen Tipps und Hinweisen weiter hilft.

Laden Sie außerdem hier unsere Checkliste für das Mandantengespräch Sorgerecht kostenlos herunter – die Sie in allen Sorgerechtsfällen bestens unterstützt.

Praxisleitfaden: Entscheidungsbefugnis bei gemeinsamem Sorgerecht

1. Sachverhalt

Die Kinder Paul (13), Lisa (7) und Malte Krüger (3) leben seit der Scheidung der Eltern bei der Mutter. Lisa ist in der Schule verhaltensauffällig und erbringt keine guten Leistungen. Die Mutter möchte Lisa in eine Waldorfschule umschulen. Malte besucht eine öffentliche Kindertagesstätte. Dort hat sich die Mutter mit den Erzieherinnen zerstritten und will ihn in einer anderen Kindertagesstätte anmelden.

Der Vater ist mit beiden Vorschlägen nicht einverstanden. Er befürchtet, dass Lisa sich den Schul- und Ausbildungsweg verbaut, wenn sie eine Waldorfschule besucht. Ihre Schwierigkeiten möchte er mit Hilfe von Erziehungsberatung und Nachhilfestunden angehen.

Er ist der Ansicht, die Kinder dürften bei der Mutter zu häufig und zu lange mit dem Computer spielen und fernsehen. Den Wechsel der Kindertagesstätte lehnt der Vater ab, weil er nicht möchte, dass Malte sich erneut eingewöhnen und neue Freundschaften schließen muss.

Schließlich ist Herr Krüger nicht damit einverstanden, dass die Mutter Paul am Wochenende auf Partys und in die Disco gehen lässt. Paul hat Tischtennisturniere am Wochenende sausen lassen, weil er nicht aus dem Bett kam.

Herr Krüger bittet um Auskunft, ob durch gerichtliche Entscheidung verhindert werden kann, dass Lisa und Malte in eine andere Schule bzw. Kindertagesstätte umgemeldet werden.
Vorsorglich möchte er auch gleich die Übertragung der elterlichen Sorge bezüglich sämtlicher schulischer Angelegenheiten auf sich bewirken, weil er befürchtet, dass er sich mit der Mutter bezüglich der Einschulung von Malte und über den Ausbildungsweg von Paul nicht wird einigen können.

Schließlich möchte er eine vollstreckbare gerichtliche Anordnung erwirken, nach der die Fernsehzeiten der Kinder und die Ausgehzeiten von Paul am Wochenende festgelegt werden.

2. Checkliste

Angelegenheit von erheblicher Bedeutung

Im Mandantengespräch muss ermittelt werden, ob die Anliegen des Mandanten Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung i.S.d. § 1687 BGB sind.
Da diese Thematik meistens von den subjektiven Empfindungen der Eltern überlagert wird, sollte versucht werden, möglichst viele „harte Fakten“ aus den Schilderungen des Mandanten herauszufiltern.

  • Vorlage und Auswertung der letzten drei Zeugnisse von Lisa
  • Einholung einer schriftlichen Einschätzung der Lehrer über die Potentiale und Schwierigkeiten von Lisa
  • Darstellung des Schulverlaufs auf der Waldorfschule und Möglichkeiten eines Wechsels zurück auf eine staatliche Schule
  • Erfragen Sie, welche Freunde Malte wichtig sind, ob er Kinder aus dem neuen Kindergarten kennt und ob der Kindergarten in der Nähe des Wohnorts gelegen ist.
  • Erfragen Sie, wie viel Zeit die Kinder täglich mit Fernsehen und Computer verbringen, ob altersgerechte Medien konsumiert werden, welche Auswirkungen feststellbar sind.

3. Lösung

Außergerichtliche Beratung

Wenn die Eltern bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge bezüglich einer bestimmten Angelegenheit in Konflikt geraten, kann ein Elternteil die Übertragung der Alleinentscheidungsbefugnis gem. § 1628 BGB beantragen.

Diese Option besteht jedoch wegen der in § 1687 Abs. 1 Satz.2 BGB getroffenen Regelung nur für Angelegenheiten, die von erheblicher Bedeutung sind.

Das sind Angelegenheiten, deren Entscheidung nur schwer oder gar nicht abzuändernde Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Zum Beispiel:

  • Schulwahl
  • Vorname
  • Umzug
  • Reisen in Länder aus einem fremden Kulturkreis
  • Impfung

Dagegen dürfen Angelegenheiten des täglichen Lebens von dem betreuenden Elternteil allein entschieden werden. Angelegenheiten des täglichen Lebens sind häufig vorkommende Situationen, die eine sorgerechtliche Entscheidung der Eltern erfordern, deren Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes aber ohne Aufwand wieder abänderbar sind:

  • Schulalltag
  • Ernährungsfragen
  • Bestimmung der Schlafenszeiten
  • Fernsehkonsum
  • Besuch von Badeanstalten und Diskotheken
  • Umgang mit Freunden
  • Gewöhnliche medizinische Versorgung
  • Taschengeld

 

Praxistipp: Dieser Unterschied sollte dem Mandanten eindringlich vor Augen geführt werden. Er sollte darauf hingewiesen werden, dass dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zukommt und das Risiko besteht, dass in Zweifelsfällen ein Antrag zurückgewiesen wird, weil das Gericht den Sachverhalt als Angelegenheit des täglichen Lebens betrachtet.

 
Schulwahl

Die Frage, ob Lisa auf eine Waldorfschule wechseln sollte, ist eine Entscheidung, die sich maßgeblich auf die Schullaufbahn von Lisa auswirken wird. Dieser Wechsel ist aufgrund der großen Unterschiede zwischen den Schulformen auch nicht leicht wieder abänderbar.

Es handelt sich somit um eine erhebliche Angelegenheit. Wenn Herr Krüger inhaltlich darlegen kann, dass der Schulwechsel nicht im Interesse von Lisa ist, besteht Aussicht auf Erfolg, dass ihm die alleinige Befugnis zur An- und Ummeldung der Schule übertragen wird.

Kindergarten

Bei Streit über die Anmeldung zum Kindergarten ist Vorsicht geboten. Ob es sich um eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung handelt, muss im Einzelfall beurteilt werden. Während die Wahl der Schule (VerfG Brandenburg, FamRZ 2010, 471), insbesondere ein Wechsel der Schulform, typischerweise eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung ist, ist dies für die Wahl des Kindergartens eher die Ausnahme.

Da der Vater mit dem Besuch einer Kindertagesstätte grundsätzlich einverstanden ist, ist es gut vertretbar, den Wechsel des Kindergartens als Angelegenheit des täglichen Lebens einzustufen.

Denn die Freundschaften von dreijährigen Kindern sind i.d.R. noch nicht besonders gefestigt. Wenn Malte keine Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung hatte, wird ihm ein Wechsel des Kindergartens nicht besonders schwerfallen.

Es ist zu berücksichtigen, dass ein gutes Verhältnis der Mutter zu den Erziehern wichtig ist, da sie Malte täglich zur Kita bringt und abholt und die Elternbeteiligung in der Kita übernimmt.

Freizeitgestaltung

Fernsehkonsum und Ausgehzeiten sind allein von dem Elternteil festzulegen, bei dem die Kinder gerade betreut werden. An den Umgangswochenenden kann Herr Krüger die Grenzen setzen, die er für richtig hält.

Im Übrigen hat er keine Möglichkeit auf die Ausgestaltung der Betreuung einzuwirken, sofern kindeswohlschädliche Auswirkungen nicht zu erkennen sind.

Wenn die Themen Fernsehkonsum und Computerspiele ausnahmsweise eine gravierende Rolle spielen, müsste detailliert dargelegt werden, worin die Gefahren bestehen. Es müsste zur Suchtgefahr bei konkreten Spielen oder zur Ungeeignetheit konkreter Filme vorgetragen werden.

Teilsorgerechtsentzug oder Einzelentscheidungsbefugnis?

Bei der Frage, ob Herr Krüger zukünftige Meinungsverschiedenheiten durch einen Antrag auf Übertragung der alleinigen Sorge für schulische Angelegenheiten gem. § 1671 BGB ausschließen kann, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen.

Da die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge einen Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG darstellt, muss der Teilentzug des Sorgerechts eine zur Wahrung des Kindeswohls notwendige, erforderliche und geeignete Maßnahme sein.

Vorliegend steht nur die Entscheidung über den Schulwechsel von Lisa an. Für Malte und Tom sind derzeit keine Entscheidungen zu treffen. Ein Teilsorgerechtsentzug wäre daher nur gerechtfertigt, wenn sich die Meinungsverschiedenheiten der Eltern bezüglich der schulischen Belange belastend auf die Kinder auswirken würden.

Da die Eltern jedoch weitgehend kooperationsfähig sind und Konflikte nur im Hinblick auf Einzelprobleme bestehen, kann nicht ohne weiteres die gemeinsame Sorge – wenn auch nur in Teilbereichen – aufgehoben werden. Das Gericht dürfte Herrn Krüger daher als milderes Mittel nur die einmalige Entscheidungsbefugnis in der einzelnen umstrittenen Angelegenheit gem. § 1628 BGB übertragen (BVerfG, FamRZ 2004, 1015; OLG Köln, FamRZ 2010, 906).

Rechtsanwältin, Fachanwältin für Familienrecht und Erbrecht, Katharina Kraft.

Aus: Die 100 typischen Mandate im Familienrecht, Praxisleitfaden mit CD-ROM und Online-Service, 3. Auflage 2012