Mindestlohn als Maßstab für fiktives Einkommen?

Das Mindestlohngesetz ist gerade in aller Munde und zeigt sogar schon Auswirkungen auf die familienrechtliche Praxis. Denn ab sofort können Sie den Mindestlohn heranziehen, wenn Sie das fiktive Einkommen eines Unterhaltsberechtigten ermitteln möchten. Das geht aus einem Urteil des OLG Brandenburg hervor.

Höhe des nachehelichen Unterhalts und Umfang der Erwerbsobliegenheit

Der Unterhaltsfall: Die Beteiligten streiten im Scheidungsverbund über nachehelichen Unterhalt. Die Ehefrau verlangt Aufstockungsunterhalt nach § 1573 Abs. 2 BGB. Sie macht geltend, den nach den ehelichen Lebensverhältnissen angemessenen Unterhalt weder zu verdienen noch verdienen zu können.

 

Die Erwerbsbiografie der Ehefrau

Die 47-jährige Ehefrau ist gelernte Bäckereifachverkäuferin, übte diesen Beruf jedoch nur kurz aus. In den folgenden Jahren war sie ohne entsprechende Ausbildung zumeist in Teilzeit tätig, zuletzt als Personaldisponentenassistentin.

Diese Tätigkeit wurde aufgrund der Geburt des Kindes und nachfolgender Elternzeit unterbrochen. Danach nahm die Ehefrau das Beschäftigungsverhältnis wieder auf, bezog infolge einer Krankschreibung allerdings bereits von demselben Monat an knapp eineinhalb Jahre lang Krankengeld.

Anschließend kündigte der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis. Ein nachfolgendes Arbeitsgerichtsverfahren endete mit einem Vergleich. Die gezahlte Abfindung wurde in der Ehe verbraucht.

Die Erwerbsobliegenheit der Ehefrau

Im Scheidungsverbund geht es hinsichtlich des von der Ehefrau verlangten nachehelichen Unterhalts u.a. um die Frage, in welchem Umfang ihr eine angemessene Erwerbstätigkeit obliegt.

Die Entscheidung des OLG Brandenburg vom 7.8.2014

Das OLG verpflichtet den Ehemann, an die Ehefrau einen monatlichen Unterhalt von 844 € zu zahlen. Die Ehefrau trifft gem. § 1574 BGB aber eine Erwerbsobliegenheit.

Sie hat zumindest seit annähernd einem Jahr keine ausreichenden Bemühungen um das Erlangen einer Vollzeittätigkeit dargetan.

Weder aus Alters- noch aus gesundheitlichen Gründen durfte sie davon absehen, vollzeitig erwerbstätig zu sein. Von ausreichenden Bewerbungen durfte die Ehefrau nicht mit der Begründung absehen, sie habe keine reale Beschäftigungschance.

Für Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter kann sogar in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit i.d.R. kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden, dass sie nicht vermittelbar sind.

Beschäftigungschancen der Ehefrau

Die Ehefrau befindet sich mit 47 Jahren im mittleren Erwerbsalter. Sie ist zwar – auch wenn sie eine Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin abgeschlossen hat – als ungelernt anzusehen, da sie in dem Bereich, der aufgrund ihrer Situation für eine Erwerbstätigkeit in Betracht kommt, keine Ausbildung aufgenommen oder beendet hat.

Dass sie nicht als Bäckereifachverkäuferin arbeiten will, ist zu akzeptieren. Da sie aber über Berufserfahrung verfügt, kann sie nicht geltend machen, sie habe auf dem Arbeitsmarkt keine Chance. Auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kann sie bei ausreichenden Bemühungen einen Arbeitsplatz finden.

Erzielbares Einkommen der Ehefrau

Ausgehend von einem künftigen Mindestlohn von 8,50 €, den eine zwar ungelernte, aber erfahrene Bürokraft erzielen kann, ist davon auszugehen, dass die Ehefrau jedenfalls monatlich brutto 1.470 € = netto 1.076 € (Steuerklasse I, 0,5 Kinderfreibetrag) verdienen könnte, wobei davon noch pauschale berufsbedingte Aufwendungen und der Erwerbstätigenbonus abzusetzen sind.

Folgerungen aus der Entscheidung

Unter welchen Voraussetzungen angenommen wird, dass sich ein Unterhaltsberechtigter nicht mehr um einen Arbeitsplatz bemühen muss, weil entsprechende Bewerbungen aussichtslos wären, ist bei der Frage, ob ihm ein fiktives Einkommen zuzurechnen ist, ein Problem.

Absehen von ausreichenden Bewerbungen riskant

Im Zweifel wird gegen den Unterhaltsberechtigten entschieden. Die vorliegende Entscheidung ist ein weiterer Beleg dafür. Sie ist eindeutig; ein anderes Ergebnis wäre schwer nachvollziehbar gewesen. Wer sich als Unterhaltsberechtigter nicht um einen Arbeitsplatz bemüht, handelt sehr riskant

Mindestlohn als Maßstab des fiktiven Einkommens

Mit dem künftigen Mindestlohn ist es leichter geworden, die Höhe des fiktiven Einkommens zu ermitteln. Bei einem Mindestlohn von 8,50 € und 40 Wochenarbeitsstunden ist ein monatlicher Bruttolohn von 1.470 € als Mindesteinkommen vorgegeben, ähnlich wie die Mindestunterhaltssätze bei minderjährigen Kindern.

 

Die Kernaussagen des Gerichts:

1. Ein Ehegatte verstößt gegen seine sich aus § 1574 BGB ergebende Erwerbsobliegenheit, wenn er ausschließlich mit der Begründung, er habe keine reale Beschäftigungschance, von Bewerbungen abgesehen hat. Denn für Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter kann sogar in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit i.d.R. kein Erfahrungssatz dahin gehend gebildet werden, dass sie nicht vermittelbar sind.

2. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine zwar ungelernte, aber erfahrene Bürokraft mindestens ein Entgelt in Höhe des künftigen Mindestlohns von 8,50 € erzielen kann.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 07.08.2014 – 9 UF 159/13, DRsp-Nr. 2014/12058

Praxishinweis der Familienrecht.de-Redaktion:

Gleichermaßen kann auch dem Unterhaltspflichtigen ein Bruttostundenlohn von 8,50 € als Mindesteinkommen fiktiv zugerechnet werden, nur ist das wegen der Selbstbehaltssätze für den Unterhaltspflichtigen wenig hilfreich.

 
Autor: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht Dr. Lambert Krause, Waldshut-Tiengen und Wurmlingen